Als Manuskript ausgelegt bei der Ausstellung zum Jubiläum des Paul-Schneider-Freizeitheims 2005 in Dornholzhausen.
1955 wurde durch Beschluss der Kirchenkreise Wetzlar und Braunfels der Strauchhof bei Dornholzhausen als Freizeitheim der beiden Kirchenkreise gekauft. Damit begann die heute 50-jährige Geschichte des Freizeitheims, das heute Paul-Schneider-Freizeitheim heißt. Das Paul-Schneider-Freizeitheim hatte jedoch zwei Vorgänger, diese sollen in dieser Darstellung in Erinnerung gerufen werden. Der erste Vorgänger war die Rettungsanstalt in Rechtenbach, die 1855 entstand, also 100 Jahre früher. Der zweite Vorgänger war das Freizeitenheim am Stoppelberg bei Wetzlar, das der Wetzlarer Pfarrer Wilhelm Güttges von 1931 bis in die 1940er Jahre hinein betrieb und in dem viele Veranstaltungen der Kirchengemeinde Wetzlar und der Kirchenkreise Wetzlar und Braunfels stattfanden. In dieser Darstellung soll zudem an einen der Mitbegründer des Paul-Schneider-Freizeitheims erinnert werden, Erich Girolstein. Am Ende der Darstellung wird die Geschichte von Pfarrer Paul Schneider in Erinnerung gerufen.
Wilhelm Güttges, Erich Girolstein und Paul Schneider gehörten alle drei der Bekennenden Kirche an und sie haben sich gekannt. Wilhelm Güttges und Paul Schneider engagierten sich vor und während des Nationalsozialismus im Kirchenkreis Wetzlar für Jugendliche und Arbeitslose, vermutlich gemeinsam.
1. Die Rettungsanstalt auf Hof Rechtenbach
Am 25. Oktober 1854 wurde der Wetzlarer Verein für Innere Mission für die Synoden Wetzlar und Braunfels gegründet. Bereits bei der Kreissynode am 25. August 1854 hieß es, dass die Synode Erbauungsschriften zur Förderung der Inneren Mission anschafft. Die Gründung des Vereins geschah auf Anregung des Rheinischen Provinzialvereins, der Wetzlarer Verein schloss sich diesem Provinzialverein an. Der Vorstand des Wetzlarer Vereins bestand 1854 aus dem Vorsitzenden Pfarrer Brodersen aus Erda, Schriftführer Pfarrer Schapper und Schatzmeister Lehrer Brück. Später kamen hinzu Superintendent Allmenröder aus Bonbaden und Georg Macrander aus Wetzlar. Im Gründungsjahr hatte der Verein 114 Mitglieder. Aufgabe des Vereins war die christliche Sorge für Verwahrloste jeder Art, die Armen- und Krankenpflege. Er sah seine Aufgabe auch im Engagement für die Sonntagsheiligung, für die Enthaltsamkeitssache, die Schriftenverbreitung und für Hausgottesdienste. Am Herzen lag dem Verein besonders die Pflege und Erziehung verwahrloster Kinder. Am 11. Juli 1855 wurde das erste Jahresfest des Vereins in Steindorf gefeiert. Dort wurde der Beschluss gefasst, ein Rettungshaus zu gründen. Der Vorstand wählte den Hof Rechtenbach und mietete dort Räume, am 19. November 1855 wurde das Rettungshaus eröffnet. Für das Rettungshaus wurde ein zwölfköpfiges Direktorium gewählt. Der Central-Ausschuss für die Innere Mission sandte den 27-jährigen A. Reulecke als Hausvater, der zunächst Schneidergeselle gewesen war und dann eine diakonische Ausbildung erhalten hatte. Außerdem lebte eine Haushälterin auf dem Hof. Der Inspektor war jeweils der Ortspfarrer. Zunächst wurden sieben Knaben aufgenommen.
Rettungshäuser waren Erziehungsanstalten für gefährdete und verwahrloste Jugendliche. Die ersten Rettungshäuser entstanden nach den Napoleonischen Kriegen. Sie nahmen die Kinder auf, die nach den Kriegen auf den Straßen lebten, Soldatenkinder, herumstreunende Kinder, Waisenkinder und uneheliche Kinder. Viele Kinder lebten in dieser Zeit als Bettler und Diebe. Die Gründer der ersten Rettungshäuser kamen aus der Erweckungsbewegung. Sie bauten auf die Pädagogik von Johann Hinrich Pestalozzi und August Hermann Francke auf. Es ging um die Erziehung und die religiöse Rettung der Kinder. In den Rettungshäusern galt das Familienprinzip. Die Kinder wurden in Haus und Feld beschäftigt und anschließend bei Handwerkern und Landarbeitern in die Lehre gegeben. Die ersten Rettungshäuser entstanden 1819 in Weimar durch Johannes Daniel Falk (zunächst in seinem Privathaus, dann der Lutherhof), 1819 durch Adalbert Graf von der Recke-Volmerstein (zunächst in seinem Privathaus in Overdyk, dann ab 1822 in der alten Abtei im Düsseltal), durch Christian Heinrich Zeller und Christian Friedrich Spittler 1820 im Schloß zu Beuggen in Baden und durch Johann Hinrich Wichern, der von seinen Vorläufern gelernt hatte und 1833 das Rauhe Haus in Hamburg gründete.
In den „Statuten für die Rettungsanstalt für sittlich verwahrloste Kinder auf dem Klein-Rechtenbacher Hofe bei Wetzlar“ vom 1. Oktober 1856 heißt es:
„§1: „Die Rettungsanstalt für sittlich verwahrloste Kinder auf dem Klein-Rechtenbacher Hof bei Wetzlar ist bestimmt zur Pflege und Erziehung verwahrloster oder dem geistigen und leiblichen Verderben ausgesetzter Kinder evangelischer Confession, welche ihr von den Eltern, Vormündern oder öffentlichen Behörden übergeben werden. § 2: Zu diesem Zweck sollen die Zöglinge in der Anstalt gepflegt und beköstigt, in der christlichen Religion nach den Lehren der evangelischen Kirche unterwiesen, zu einem gottesfürchtigen Leben angeleitet und ermuntert und mit nützlichen Kenntnissen und Fertigkeiten ausgerüstet werden.“
Die Kinder kamen aus der näheren Umgebung, erst später aus der ganzen Rheinprovinz. Mädchen wurden selten aufgenommen, wenn, dann wurden sie bei Familien des Dorfes untergebracht. Hausvater Reulecke beschäftigte die Kinder mit Hausarbeiten, Holzschnitzen, Strohflechten und mit Schneidern. Er unterrichtete die Kinder auch schulisch, damit scheint er jedoch überfordert gewesen zu sein. Bis 1867 wurden im Rettungshaus in Rechtenbach insgesamt 42 Knaben aufgenommen und 13 in Familien untergebracht. Die Zahl der Knaben auf dem Hof lag jeweils zwischen acht und 18. Die entlassenen Knaben wurden bei Meistern in die Lehre gegeben. Während des Krieges 1866 waren mehr als 200 Soldaten auf dem Rechtenbacher Hof untergebracht, die Arbeit war nur wenig eingeschränkt. Die Rettungsanstalt trug sich finanziell von den 25 Talern Pflegegeld, die pro Kind und Jahr im Höchstfall gezahlt wurden, von Spenden, von Kirchen- und Hauskollekten. Die Spenden bestanden aus Geld und aus Naturalien wie Getreide, Linsen, Erbsen, Kartoffeln, Weißkraut, Möhren und Kohlrabi. Öffentliche Zuschüsse gab es keine. Das Rettungshaus hatte 1867 325 Taler Schulden. Anfang 1868 entschloss sich der Vorstand, den der Gemeinde Klein-Rechtenbach gehörenden Hof für 3.150 Taler zu kaufen. Die Gemeindevertreter stimmten mit Bedingungen zu. Erst als die Anstalt 1871 die Rechte einer juristischen Person bekommen hatte, konnte der Kauf auf der Grundlage des Beschlusses von 1868 vollzogen werden. 1869 wurde auf Veranlassung des Vereins ein Knabe in der Anstalt für Epileptische in Bielefeld untergebracht. Der Aufenthalt wurde zum großen Teil vom Verein bezahlt. 1869 war die Zahl der ständig sich auf dem Hof befindenden Kinder auf 24 gestiegen. Das zu erwerbende Haus sollte ein Mittelpunkt werden für Konferenzen und für Missionsstunden des ganzen Kreises. Mit der Verleihung der Corporations-Rechte für den Hof 1870 löste sich der Hof von dem Verein für Innere Mission. Der Verein bestand weiter, er verbreitete Schriften und Traktate und kümmerte sich weiterhin um die Unterbringung von Jungen und Mädchen in Familien. G. Göbel war nun der Vorsitzende der Anstalt. Die Anstalt dehnte ihre Wirksamkeit nun weit über den Kreis Wetzlar hinaus aus.
1872 wurde der baufällige Anbau des Hofhauses hergerichtet, ein Wirtschaftsgebäude kam dort hinein mit neuen Zimmern. Mit dem Rettungshaus sollte eine Präparandenanstalt verbunden werden. 1873 begann man mit einer kleinen Viehhaltung. Durch den Hauskauf und den Umbau stieg die Schuldenlast 1873 auf 2200 Taler. Da es weiterhin keine öffentliche Unterstützung gab, wurde das Pflegegeld erhöht. Kinder aus dem hiesigen Kollektenbezirk zahlten nun 35 Taler, auswärtige Kinder 40. Die Kinder mussten mithelfen, den Schuldenberg abzutragen. Die größeren Jungen machten Haare für Perücken zurecht, was jährlich über 100 Taler einbrachte. 1874 schien es nur zwei Auswege aus der Finanznot zu geben, entweder die Übernahme der Rettungsanstalt durch den Kreis Wetzlar oder eine Zunahme der bisherigen Einnahmen, etwa durch die Erweiterung des Kollektenbezirks und die Erlaubnis der Provinz, eine einmalige Kollekte zuzulassen zum Abbau der Schulden. Außerdem wurde erwogen, die Pflegesätze zu erhöhen. Die Provinzialsynode befürwortete 1874 eine Hauskollekte in der ganzen Provinz für die Rettungsanstalt, damit war der Fortbestand der Anstalt gesichert. Bei der Hauskollekte im Kirchenkreis kamen 1877 441 Mark und 2 Pfennige zusammen, aus Wetzlar allein 258 Mark und 99 Pfennige. In Wetzlar bestand ein kleiner Nähverein für die Rettungsanstalt. Zu Weihnachten 1877 schenkte die Wetzlarer Hospitalverwaltung 100 Mark. 1879 waren es 34 Zöglinge, sieben davon aus Wetzlar. Weitere Zimmer wurden eingerichtet, jetzt hatten 42 Zöglinge Platz. Mit einer weiteren Zunahme wurde gerechnet. Von den 336 Mark und 99 Pfennigen der Hauskollekte des Jahres 1879 kamen 262 Mark und 86 Pfennige von Wetzlar. Der Wetzlarer Nähverein unterstützte weiterhin die Arbeit. Ein Gehilfe wurde angestellt, ein Schulzimmer eingerichtet, ein Stallgebäude und ein Holzschuppen gebaut und der Kauf eines Ackers wurde erwogen. 1880 kam Röbenacke in den Vorstand. Am 14. Juli 1881 wurde die 25-Jahr-Feier der Rettungsanstalt begangen. Wegen der Menge der Teilnehmer wurde das Fest auf einem mit Obstbäumen bepflanzten Feld gefeiert. Generalsuperintendent Dr. Nieden war zugegen. Die Witwe von Ludwig Raab in Wetzlar hatte der Anstalt ein Legat von 1.000 Mark zugewiesen. 1886 heißt es, dass die Anstalt, die früher dumpfe, lichtlose Räume hatte, heute mit geräumigen Schlafsälen mit hinreichender Ventilation und den nötigen Wascheinrichtungen ausgestattet sei. Die Anstalt hatte nun zwei Äcker zur Bewirtschaftung gekauft. Da sie wenig Grundbesitz hatte, war sie in der Vergangenheit gezwungen gewesen, auch die geringsten ländlichen Erzeugnisse ankaufen zu müssen. Die Rettungsanstalt hatte weiterhin Verbindungen nach Wetzlar. Zu Weihnachten wurde in Wetzlar zu Spenden für die Rettungsanstalt aufgerufen. 1886 waren als Sammelstationen in Wetzlar Oberpfarrer Röbenacke, Bürgermeister Moritz, Pfarrer Schöler und Rendant Schwiebus angegeben. 1888 schied Landrat von Tieschowitz aus dem Vorstand aus, da er nach Köln versetzt wurde. 1897 wird davon berichtet, dass die finanzielle Lage immer ungünstiger geworden sei. Der Vorstand beschloss, die Anstalt abzugeben. Die 20 Knaben wurden in anderen Rettungshäusern aufgenommen. Die Anstalt sollte jedoch der Inneren Mission erhalten bleiben. Sie wurde an das Sobernheimer Diakonissenhaus (heute ein Teil der Kreuznacher Diakonie) verkauft. Das Sobernheimer Diakonissenhaus eröffnete am 15. November 1897 eine „Heimstätte für Blöden-, Blinden- und Siechenpflege“. 1902 verlegten die Diakonie-Anstalten Bad Kreuznach ein Waisenhaus von Sobernheim nach Rechtenbach, Eröffnung war am 13. August 1902. Nun war auf Hof Rechtenbach eine Erziehungsanstalt für rund 44 Waisenkinder, der Name des Hauses wurde „Haus Zoar“. Am 12. August 1912, nach beinahe 30-jähriger Pause, wurde wieder ein Anstaltsfest gefeiert. Es war zugleich das Synodalfest des synodalen Vereins für Innere Mission. Die Zahl der Zöglinge: 1877: 27, 1879: 34, 1881: 47, 1882: 50, 1885: 52, 1886: 45 und 1897: 20 Kinder.
Da das Rettungshaus in Rechtenbach den Zweck hatte, Veranstaltungsort für Konferenzen und Missionsstunden zu sein, kann es als erster Vorläufer des Paul-Schneider-Freizeitheims gelten. Es war regelmäßig Veranstaltungsort für viele Kreisfeste der kirchlichen Vereine.
2. Wilhelm Güttges und das Freizeitenheim am Stoppelberg in Wetzlar
Wilhelm Güttges wurde am 17. August 1882 als Sohn eines Webers in Rheydt geboren. Er studierte Evangelische Theologie in Halle und Bonn, was Hilfsprediger in Friedrichsthal und Köln. Dann wurde er Pfarrer in Rees von 1910 bis 1915 und in Schüren von 1915 bis 1929. Er war Pfarrer in Wetzlar im Bezirk Süd vom 1. März 1929 bis zu seinem Tod am 11. April 1945. Seine Einführung wurde mit einem Gottesdienst und einer Gemeindefeier gefeiert (vielleicht war dies die erste Gemeindefeier anlässlich der Einführung eines Pfarrers in Wetzlar). Güttges wohnte in der Kornblumengasse 11. Güttges rief 1929 zur (Neu-)Gründung einer Evangelischen Frauenhilfe in Wetzlar auf, im Anschluss daran entstanden in den drei Bezirken neue Frauenhilfen. Er übernahm das kirchliche Jugendamt, das aufgrund der Größe der Gemeinde mit dem kirchlichen Wohlfahrtsamt verbunden war. Güttges war Mitglied des Innerkirchlichen Ausschusses, der gleichzeitig das synodale Jugend- und Wohlfahrtsamt war und er war Vertreter für Apologetik. Er erwarb sich sehr große Verdienste durch das Freizeitenheim, das er für die kirchliche Arbeit pachtete, durch sein Eintreten für das Evangelium während des Dritten Reiches und die Aufrechterhaltung der kirchlichen Jugendarbeit während des Dritten Reiches. In dieser Zeit wurde ein Strafverfahren gegen ihn eröffnet.
1929 fällt zum ersten Mal das Stichwort „Freizeit“ in den Synodalprotokollen des Kirchenkreises Wetzlar, es hatte eine Freizeit für junge Frauen gegeben. Veranstaltungen mit der ausdrücklichen Bezeichnung „Freizeit“ gibt es – soweit wir sehen – erst seit 1913. Die Evangelische Jungmädchenarbeit in Deutschland richtete seit 1913 „Freizeiten“ nach dem Vorbild der englischen Camps und der schwedischen Landheimveranstaltungen ein zur Gewinnung und Förderung der Jugend. 1930 sagte Güttges bei der Synode, er wolle sich stärker „den Entwendeten in der Arbeiterschaft“ annehmen. Er möchte sie durch Kurse und Freizeiten wieder mehr in die christliche Gedankenwelt einführen. 1931 pachtete Güttges mit Hilfe der Gemeinde im Stoppelberger Wald ein freigewordenes Jägerhaus, das Dienstgehöft der früheren Försterei am Stoppelberg, mit den dazugehörenden Ländereien.
Das Ziel von Güttges war es, ein Haus für den evangelischen Schulungs- und Missionsdienst zu haben. Der große Raum fasste 30 bis 50 Personen. Er sollte evangelischen Freizeiten, Kursen und Tagungen dienen. Auf dem Wiesenstück konnten große Gruppen zusammenkommen, es gab eine Spielwiese, einen Waldesdom und Sitzplätze für 300 Personen. Insbesondere sollten Erwachsene geschult werden. Güttges sah es mit Bedauern, dass viele Erwachsene ihren Glauben nicht vor anderen vertreten können, dass sie keine Antworten auf Fragen geben können, dass sie den Einwänden der Gegner nicht kundig begegnen können, die Bibel nicht kennen und über die Kirche nicht Bescheid wissen. Die Schulungen fanden an einzelnen Nachmittagen oder an mehreren aufeinander folgenden Tagen statt. Eine einfache Unterkunftsmöglichkeit für Jugendliche gab es im Gehöft oder es konnte gezeltet werden. Das Haus sollte der Evangelischen Kirchengemeinde Wetzlar und allen Gemeinden des Kreises dienen. Frauenhilfen, Männervereinigungen, Gemeinschaften, Jugendgruppen, Arbeitsgemeinschaften und Studienkreise wurden angesprochen, um es für Schulungen und Rüstzeiten zu nutzen. Eine Kaffeewirtschaft für Durchgangsverkehr sollte es nicht werden. Das Haus wurde am 23. November 1931 durch Superintendent Wieber eingeweiht. Das Haus wurde von einem Landwirt verwaltet, Leiter war Güttges, Hausmutter war Frau Haas. Anmeldungen waren direkt an Güttges zu richten. In dem Freizeitenheim wurden Freizeiten und Treffen für kirchliche Vereine veranstaltet, aber auch für der Kirche distanzierte Menschen. Hier sollten Aussprachen auch mit denen stattfinden, die der Kirche fern standen oder feindselig waren. Es kam zu Treffen mit Freidenkern und Atheisten. Die Synode unterstützte das Freizeitenheim finanziell. Der Tagessatz betrug 2,50 RM. Güttges schloss den Pachtvertrag zunächst einmal bis 1948 ab.
Die erste Veranstaltung im Freizeitenheim war wohl eine Mütterfreizeit, bzw. ein Müttertag der Wetzlarer Frauenhilfe Süd im November. Ihr folgte eine Erwerbslosenfreizeit vom 30. November bis 4. Dezember 1931. Das Thema: „Das Freidenkertum der Gegenwart, Darstellung und Kritik“. Die Teilnehmer wohnten zu Hause und kamen morgens zum Freizeitenheim, 26 bis 29 Männer nahmen täglich an ihr teil. 1932 fand die zweite Erwerbslosenfreizeit statt, die ebenfalls fünf Tage dauerte. Das Haus galt zudem als ein Teil der Jugendpflege. Im April 1932 war dort eine Arbeitstagung des Bibelkreises Wetzlar mit den Bibelkreisen aus Gießen und Butzbach. Vom 21. Oktober bis 4. November 1932 gab es eine kirchliche Schulungswoche des Kirchenkreises Wetzlar zum Thema „Die Kirche“. Es sprachen Güttges zum Thema „Der Kirche Grund“ und „Kirche und Staat“, Pfarrer Harth aus Klein-Rechtenbach über „Der Kirche Dienst“ und Pfarrer Schmidt aus Wetzlar über „Kirche, Wirtschaft und Politik“. 1933 fand im Freizeitenheim das Jahresfest der Jungfrauenvereine statt. 1934 war dort ein Schulungskurs der Vertrauensfrauen der Frauenhilfe mit der Mitarbeiterin der Rheinischen Frauenhilfe Natorp aus Barmen unter Mitwirkung der Wetzlarer Pfarrer. In den folgenden Jahren war das Freizeitenheim ein Ziel vieler Ausflüge und Ort vieler Treffen von Gruppen und Kreisen aus den Kirchenkreisen.
3. Erich Girolstein
Einer der Mitbegründer des Paul-Schneider-Freizeitheims in Dornholzhausen war Erich Girolstein. Nach Erich Girolstein ist heute die Erich-Girolstein-Schule in Niedergirmes benannt. Seine pädagogische Wirksamkeit und Leistung in Wetzlar ist bis heute nicht vergessen. Seine bedeutende kirchliche Tätigkeit vor dem Nationalsozialismus, während des Nationalsozialismus und nach 1945 scheint nur noch wenigen bekannt zu sein.
Erich Girolstein war Lehrer, er wurde 1892 geboren und machte in Neuwied von 1906 bis 1912 seine Lehrerausbildung. 1912 wurde er Lehrer in Asslar, 1913 in Betzdorf, dann in Oberbiel und in Koblenz. Nach einer Krankheit war er ab dem 22. April 1914 wieder Lehrer in Betzdorf. Im Ersten Weltkrieg war er ab September 1915 Soldat und wurde 1916 zum Vizefeldwebel und Offiziers-Aspiraten befördert. Er geriet 1916 bei Thieprae in englische Gefangenschaft. 1918 wurde er in Holland interniert. Er besuchte den Kursus für die zweite Lehrerprüfung. Ab dem 3. Januar 1919 war er erneut Lehrer in Betzdorf. Am 1. Mai 1919 kam er an die Präparandenanstalt nach Wetzlar. Im Januar 1920 wurde er staatlicher einstweiliger Präparandenlehrer. Da sich das Ende des Lehrerseminars in Wetzlar abzeichnete, bewarb er sich um eine Verwendung im städtischen Schuldienst. Er machte die Kursusausbildung zum Hilfsschullehrer und wurde Hilfsschullehrer in Wetzlar. Girolstein war verheiratet, hatte vier Kinder. Ein großer Teil seiner Familienangehörigen waren Pfarrer, sein Bruder, Schwäger, Vettern, sein Onkel und sein Großvater. Zusammen mit der Stadt Wetzlar und unterstützt von Hedwig Leitz gründete er im April 1923 nach Auflösung des Lehrerseminars die erste Hilfsschulklasse im Wetzlarer Gebiet. Die Klasse war der Franziskanerschule angegliedert. 28 damals nicht für schulfähig gehaltene bzw. überalterte Kinder, Kinder mit einer „geistigen Schwäche“, meist aus ärmeren Schichten, besuchten die Hilfsschulklasse. Später wurde die Schule im Avemann´schen Schulhaus (Rosengasse 16, Ecke Kornblumengasse-Rosengasse-Hofstatt) untergebracht, ab 1927 führte sie den Namen Pestalozzischule. Girolstein war der erste Lehrer dieser Schule und wurde dann Schulleiter. 1929 wurde die Schule von der Franziskanerschule getrennt und wurde selbständig.
In der kirchlichen Arbeit der Evangelischen Kirchengemeinde Wetzlar tritt Girolstein zunächst als einer der Leiter des Wetzlarer Bibelkränzchens (später Bibelkreises) für Schüler höherer Lehranstalten in Erscheinung, das 1921 gegründet wurde.
Bibelkränzchen gab es in Deutschland seit 1882. Ausgangspunkt dieser Arbeit war die Jünglingstagung am Hermannsdenkmal im Teutoburger Wald im September 1882. Die Bibelkränzchen waren die Treffpunkte der Jugend der höheren Schulen. Bei der Kreissynode Wetzlar 1914 wurde erwähnt, dass es in der Vergangenheit ein Bibelkränzchen am Seminar gegeben habe und es wurde angeregt, ein Bibelkränzchen am Gymnasium zu errichten. 1901 fand der erste Präparandenkurs in Wetzlar statt, dies ist der Terminus ad quem für den Beginn der Arbeit in Wetzlar. 1920 wurde noch einmal auf die Notwendigkeit eines Bibelkränzchens am Seminar und am Gymnasium hingewiesen, daraufhin wurde 1921 ein Bibelkränzchen gegründet. Das Bibelkränzchen traf sich ab 1922 im Gemeindesaal. Im März 1931 feierte der Bibelkreis sein zehnjähriges Jubiläum. Aus diesem Anlass wurde die Geschichte des Bibelkreises (BK) zusammengestellt:
„Im Jahre 1921 wurde der BK. in Wetzlar von dem damaligen Primaner Ernst Adolf Wichmann aus Dillenburg ins Leben gerufen. Er sammelte sich einzelne jüngere Schüler, leitete den kleinen Kreis und brachte den Geist der Jugendbewegung ihm nahe, d.h. es wurde viel aus Büchern und Schriften, die aus der Jugendbewegung heraus entstanden waren, vorgelesen; vor allem wurden viele Lieder, Fahrten- und Landknechtslieder, geübt; und am Abschluß der BK.-Stunde stand eine kürzere Bibelbesprechung, d.h. Wichmann versuchte, einen Text jugendgemäß auszulegen. Es wurde auch viel gewandert; man hielt Lichtbildervorträge und veranstaltete Elternabende, zu denen meist die kirchlichen Festtage den äußeren Rahmen boten. Als Wichmann sein Abitur gemacht hatte, um sich dann dem Studium der Theologie zu widmen, wurde sein Nachfolger der Finanzbeamte Willy Siebert.
Siebert kam aus den sogenannten Gemeinschaftskreisen und brachte in den BK. einen missionarisch-pietistischen Geist, der doch jugendfrisch und ohne jede Frömmelei war. Der BK. hatte schon unter Wichmann die Anlage einer Bücherei begonnen, die im Laufe der Zeit nun recht stattlich wurde; manch schönes Buch, das von BK.-Ferienfahrten (FF.) und dergleichen erzählt, war schon damals darunter und vermittelte den Geist, der die deutschen BK.ler im ganzen Lande eint. Im Jahre 1922 suchte der BK. auch gleich schon Fühlung mit der Gesamtbewegung zu bekommen. Vor allen Dingen bemühte sich der damalige Reichs-BK.-Sekretär Robert Güldner, Kassel, sehr um den Wetzlarer Kreis und versuchte ihn auch seinerseits einzugliedern in das Leben der gesamten BK. Am 22.12.1922 wurden die Wetzlarer BK.ler von den Giessenern zur Weihnachtsfeier eingeladen, und etwa sechs folgten damals der Einladung; die Wetzlarer Weihnachtsfeier benutzen einige Giessener BK.ler, um ihren Gegenbesuch zu machen. So wurden die ersten Fäden geknüpft. Im Jahre 1923 leitete Robert Güldner eine Ferienfahrt in Hattenbach bei Niederaula, auf der die jungen Wetzlarer BK.ler alles Herrliche solcher Fahrten miterlebten: die Speerspiele, das Wandern und Baden, die stillen Freizeiten, kurz alles, was vorher davon nur vorgelesen war. Mops (Alfred Hardt), Fips (Erich Schneider), Bäumchen (Karlheinz Baum), Henny (Hans Wetz) und Grabow (Karl Grabowsky) waren damals die „Hauptkerle“. Den Höhepunkt der Ferienfahrt bildete ein von den BK.lern veranstalteter Abendgottesdienst in der kleinen Kirche der Bauerngemeinde, zu der alle Gemeindeglieder eingeladen waren. Karl Wieber, der Bub, spielte die Orgel und begleitete den jungen Chor der BK.ler, die den schlichten Bauern eine ergreifende Feierstunde bereiteten, so daß immer wieder die Wünsche laut wurden, die Jungens möchten doch bald wiederkommen.“
Zum Programm 1923 gehörten Vorträge, z.B. ein Vortrag von Pfarrer Heider über die Samoa-Mission, ein Ausflug zur Dianaburg, ein Spaziergang ins Tannenwäldchen und Besuche von Afrika-Missionar Bachmann von der Herrnhuter Brüdergemeinde. 1923 übernahm Pfarrer Schmidt die Leitung des Kreises bis 1928. In dieser Zeit leiteten zwischenzeitlich kurz Pfarrer Lühl, Studienrat Kauer und Hauptlehrer Girolstein. 1924 heißt es, das Bibelkränzchen habe einen erfreulichen Fortgang genommen. 1925 bekam das Bibelkränzchen in Wetzlar einen neuen Namen: „Bibelkreis für Schüler höherer Lehranstalten“. Der Bibelkreis bestand bis 1933. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten beschloss der Bibelkreis am 10. Juli 1933 seine Selbstauflösung.
Erich Girolstein wurde am 1. Mai 1933 Mitglied der NSDAP, am 23. Juli 1933 wurde er zu einem der 48 Gemeindeverordneten der Evangelischen Kirchengemeinde Wetzlar gewählt und ab 1934 wurde er Leiter des Wetzlarer Bekenntniskreises der Bekennenden Kirche, war Leiter des Bruderrates Wetzlar und gehörte zum Bruderrat der Bekenntnissynode des Kirchenkreises Wetzlar. Er war außerdem Vertreter eines Abgeordneten für die Rheinische Provinzialbekenntnissynode. Der Wetzlarer Bekenntniskreis wird 1935 das erste Mal erwähnt. Zu ihm gehörten zeitweise oder durchgehend wohl Erich Girolstein, die Reise- und Bibelsekretärin des Kreisverbandes der Frauenhilfe Wetzlar und Braunfels Anni Keller, die Lehrerin Dr. Ruth Elsner von Gronow, Vikarin Hildegard Güttges, Dr. Bürger, Elly Bürger und Ahl.
Girolstein leitete weiterhin die Pestalozzischule und setzte sich für diese Schule ein. 1934 musste sie aus dem Avemann´schen Haus in die Kornblumengasse 1 ziehen. Die Situation war sehr beengt. 1939 zog sie in die ehemalige Dechanei des Marienstifts. 1944 kam sie wegen der Luftangriffe nach Waldgirmes. Über die Arbeit in der Schule während des Dritten Reiches schreibt der Verwaltungsbericht der Stadt Wetzlar:
Die „Knappheit der Mittel zur Beschaffung von Inventar, Lehr- und Lernmitteln machte sich bisweilen, namentlich vor dem Krieg, nachteilig bemerkbar. Im Jahre 1938 konnte bei der Auflösung der Katholischen Volksschule einiges noch brauchbare Inventar der Pestalozzischule überwiesen werden. Während der Jahre 1933 bis 1945 wurde die Hilfsschularbeit vielfach als eine unzeitgemäße Fürsorge für Minderwertige abgetan, während andere in den Hilfsschulen eine willkommene Einrichtung zur Feststellung und Sammlung aller Untauglichen erblickten, deren sich das Volk in irgendeiner Weise zu entledigen habe. Der Krieg selbst hatte naturgemäß durch Beschlagnahme von Räumen, durch den Luftkrieg und schließlich durch die Verlegung des Schulbetriebes nach Waldgirmes auf die Entwicklung der Schule nachteiligsten Einfluß. Es gelang jedoch, die Pestalozzischule an allen Klippen vorbeizuführen, so daß sie bei Kriegsende eine der acht noch verbliebenen Hilfsschulen in Hessen war.“
Dies war das Verdienst von Erich Girolstein. Da sich Girolstein mit dem Kreiswalter des Nationalsozialistischen Lehrerbundes (NSLB) anlegte, wurde gegen ihn im März 1938 ein Parteiausschlussverfahren eingeleitet. Am 15. Dezember 1937 richteten die Pfarrer der Synoden Wetzlar und Braunfels ein Rundschreiben an einen großen Teil der Lehrerschaft, insbesondere an die Religionslehrer. Das Rundschreiben schilderte die Lage der Kirche aus der Sicht der Bekennenden Kirche. Die Lage der Kirche habe sich verschärft, es gebe Angriffe und einschränkende Veränderungen. Der Kreiswalter des Nationalsozialistischen Lehrerbundes (NSLB) Gustav Modis griff bei einer Tagung des NSLB am 22. Januar 1938 daraufhin die „staatsfeindlichen Pfaffen“ und „pfäffischen Volksschädlinge“ an. Er sagte:
„Erfreulich an diesem jüdischen Gejammer ist aber erstens, das Geständnis, daß diesen Jahwestreitern die Felle fortschwimmen und daß man von Seiten der Synode zugibt, daß nur noch Büffeln und damit verbundene okkulte Verblödung helfen kann. 2. Die Versicherung, daß es eine ganze Reihe Kameraden unter der Erzieherschaft gibt, die ihre Erzieherpflichten dem Staat gegenüber richtig erkannt haben und zur Durchführung bringen und 3. daß ein Großteil der Jugend es ablehnt, sich zu frommen Juden erziehen zu lassen. Besonders danken möchte ich den Kameraden, die mir das Rundschreiben umgehend zugehen ließen. Ich habe für eine Reihe von Exemplaren Verwendung gehabt. Die bei der Schulaufsichtsbehörde eingegangenen Proteste haben auch diese zur Stellungnahme veranlaßt. Wenn sie auch wesentlich zahmer erfolgte, als es durch den NSLB geschieht. Es hieße den Locktönen staatsfeindlicher Pfaffen, die nach der Art ihrer jüdischen Vorbilder vorziehen, unerkannt aus dem Hintergrunde zu hetzen und zu jammern, zuviel Ehre antun, wenn man sich mit diesem schmussigen Tränendrüsenappell im einzelnen befassen wollte. Ich möchte nur einige Worte über die Lehrer sagen, die von diesen pfäffischen Volksschädlingen gelobt werden. Leider kann man diese Äußerungen nicht als bloße Redensarten und sogenannte Freundlichkeiten abtun. Es sind mir tatsächlich Fälle bekannt, wo sich Lehrer in den Dienst der Jahwestreiter und gegen die nationalsozialistische Staatsführung stellen..."
Hauptlehrer Erich Girolstein stand nach dem Satz „Ich möchte nur einige Worte über die Lehrer sagen, die von diesen pfäffischen Volksschädlingen gelobt werden.“ auf und rief „Ich protestiere gegen die Art und Weise, wie hier geredet wird!“ Er, Lehrerin Lic. Dr. Elsner von Gronow und Studienrat Dr. Adolf Dienstbach verließen den Raum. Dienstbach hatte nach der Pensionierung von Prof. Wilhelm Friedrich, ehemaliger Freimaurer und Leiter des Gymnasiums, seinen Schülern gesagt, dass die von der NSDAP betriebene Aufklärung über Freimaurer und Juden übelste Kolportage sei. Elsner von Gronow soll vor Schülern gesagt haben, „daß Ludendorff uns nichts zu sagen hat“.
Gegen Girolstein, der Parteimitglied war, wurde nun ein Parteiausschlussverfahren begonnen. Wegen des Vorfalls schloss ihn das Kreisparteigericht am 3. März 1938 aus der Partei aus. In der Begründung hieß es, das Rundschreiben sei ein Versuch der Pfaffenkreise der BK, mit ihren sturen orthodoxen Lehren und Methoden die Jugend unter ihren Einfluss zu bringen. Die BK wolle weiterhin das Alte Testament als Grundlage für die religiöse Erziehung. Es werde zum Ungehorsam gegen den Staat aufgefordert. Die politisierende Kirche zeige ihre Machtansprüche. Girolstein anerkenne zwar eine berechtigte Kritik an dem Rundschreiben. Er habe sich jedoch durch die Rede von Modis in seiner und seiner Familie Ehre verletzt gefühlt. Viele Mitglieder seiner Familie seien Pfarrer. Modis habe jedoch nicht alle Pfarrer, sondern nur bestimmte politisierende Kreise der Kirche angegriffen. Girolstein habe offensichtlich in Unkenntnis über die wahren Ziele der politisierenden Kirche und ihr staatsfeindliches Treiben gehandelt. Er habe ein unnationalsozialistisches Wesen gezeigt. Girolstein legte beim Partei-Gaugericht in Frankfurt Beschwerde ein. Die Parteiführung in Wetzlar versuchte, Girolstein weiter zu isolieren. Girolstein war Hauptschöffe beim Jugendgericht, diesen Posten sollte er verlieren, er wurde als Schöffe nicht mehr berufen. Das Gaugericht entschied am 21. Juli 1938. In dem Urteil wurde die familiäre Situation von Girolstein gewürdigt und gesagt, Modis sei über das Ziel hinausgeschossen. Girolstein habe zwar gegen die Parteidisziplin verstoßen, es sei jedoch die Führeramnestie vom April/Mai 1938 zu berücksichtigen, der Parteiausschluss sei daher ungültig und das Verfahren werde eingestellt. Girolstein wusste, welche Folgen sein Handeln haben konnte. Auf der Fürbittenliste der BK standen im Juli 1938 84 Amtsbehinderungen, 36 Aufenthaltsverbote, 36 Redeverbote, 56 Ausweisungen, 11 Verhaftungen, drei im KZ-Befindliche und sieben in Schutzhaft Genommene.
Nach dem Krieg wirkte Girolstein in der Kirchengemeinde und der Stadt Wetzlar weiter.
Erich Girolstein wurde in den folgenden Jahren Kirchmeister des Presbyteriums der Evangelischen Kirchengemeinde Wetzlar, Mitglied im Kreissynodalvorstand des Evangelischen Kirchenkreises Wetzlar, Mitglied der Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland und stellvertretendes Mitglied für die Synode der Evangelischen Kirche der Union (EKU). Er war Mitglied der Wetzlarer Dombauverwaltung.
1961 gründete Erich Girolstein zusammen mit Kurt Wildner die „Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind für Wetzlar und Weilburg“ und die Werkstatt für Behinderte „Florentine“. Er war lange Vorsitzender und später Ehrenvorsitzender des Vereins. Der Verein eröffnete außerdem einen Kindergarten. Von der evangelischen Kreissynode Wetzlar und Braunfels beauftragt, gründete Girolstein die Ehe- und Familienberatungsstelle in Wetzlar. Er arbeitete bei der vom Kreis Wetzlar eingerichteten Erziehungsberatungsstelle mit. Er gründete das Paul-Schneider-Freizeit-Heim. Girolstein war Ehrenmitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). 1958 erhielt er das Bundesverdienstkreuz. 1969 zog das Ehepaar zu den Töchtern nach Konstanz. Am 23. Juli 1980 feierten Ernst Girolstein und seine Frau Martha geb. Goebel in Konstanz die Diamantene Hochzeit. Erich Girolstein starb am 8. Juli 1984 im Alter von 91 Jahren nach langer Krankheit. Er wurde auf dem Friedhof Konstanz-Allmannsdorf begraben.
4. Paul Schneider
Paul Schneider wurde in Pferdsfeld auf dem Hunsrück geboren und besuchte das Gymnasium in Kreuznach. Sein Vater Gustav Adolf Schneider wurde 1910 Pfarrer in Hochelheim und Dornholzhausen. Paul Schneider besuchte nun das Gymnasium in Gießen. 1915 legte er das Notabitur ab und nahm von 1915 bis 1918 als Kriegsfreiwilliger am Ersten Weltkrieg teil. In Gießen, Marburg und Tübingen studierte er von 1919 bis 1922 Theologie und Philosophie. Im Frühjahr 1922 legte er das Erste Theologische Examen in Koblenz ab. Er half im Pfarramt seines Vaters mit und machte 1922 ein dreimonatiges Industriepraktikum im Ruhrgebiet an einem Hochofen. 1926 wurde Paul Schneider Nachfolger seines Vaters in Dornholzhausen und Hochelheim, aber schon seit 1922 wurde jährlich über ihn in den Verhandlungen der Kreissynode Wetzlar berichtet.
1922: „Ein Sohn unseres Amtsbruders Schneider in Hochelheim, der studiosus theologiae Paul Schneider, legte im letzten Frühjahr die Prüfung pro licentia concionandi mit Erfolg ab. Bald darauf verließ er unsere Synode, um eine Zeit lang in Hörde als Industriearbeiter tätig zu sein und unter Industriearbeitern, in engerer Fühlung mit denselben lebend, ihre sozialen, kirchlichen, religiösen und sittlichen Verhältnisse besser kennen zu lernen. Wir wünschen ihm auf seinem weiteren Lebensweg von Herzen Gottes Segen.“
Ein Jahr später berichtete Superintendent Wieber über seinen Aufenthalt im Predigerseminar in Soest von 1922 bis 1923:
„Kandidaten befinden sich zur Zeit nicht in unserer Synode, weil Kandidat Paul Schneider im Predigerseminar zu Soest Aufnahme gefunden hat.“
Im Herbst 1923 legte Schneider sein Zweites Theologisches Examen in Koblenz ab. Wieber sagte 1924 vor der Kreissynode Wetzlar:
„Der Kandidat Paul Schneider, welcher im Oktober vorigen Jahres sein zweites theologisches Examen in Coblenz abgelegt und bestanden hat, ist auf ein Jahr zur Arbeit in der Berliner Stadtmission beurlaubt worden.“
Von 1923 bis 1924 war Schneider Mitarbeiter bei der Berliner Stadtmission. Im Superintendentenbericht von Wieber 1925 wird den Synodalen mitgeteilt:
„Als Kandidat weilte für einige Zeit in unserem Kirchenkreise Paul Schneider, ein Sohn unseres Amtsbruders Pfarrer Schneider zu Hoch(el)heim. Ihn bestellte das Evangelische Konsistorium zum Hilfsprediger in Essen. Ich ordinierte denselben in Hochelheim unter zahlreicher Beteiligung der Synodalgeistlichen am 30. Januar dieses Jahres.“
In Essen-Altstadt war Paul Schneider Hilfsprediger von 1925 bis 1926. Superintendent Wieber berichtete auf der Synode 1926 vom Tod Gustav Adolf Schneiders, der am 12. Januar 1926 verstorben war. Weiter hieß es:
„Die durch den Heimgang des Pfarrers Schneider verwaiste Pfarrstelle ist bis heute noch nicht besetzt. Die Wahl des neuen Pfarrers hat zwar am 4. Mai d.J. ordnungsmäßig stattgefunden – sie fiel einstimmig auf den Sohn des verstorbenen Pfarrers, den Hilfsprediger Paul Schneider – aber die Bestätigung des Gewählten bezw. die Besetzung der Pfarrstelle durch ihn kann nach Mitteilung des Ev. Konsistoriums erst nach Ablauf der Gnadenzeit, das ist nach dem 31. August d.J. erfolgen."
Im nächsten Synodalbericht hieß es:
„Die schon im vorigen Jahresbericht erwähnte Wahl des Pfarramtskandidaten Paul Schneider zum Nachfolger seines heimgegangenen Vaters im Pfarramt von Hochelheim-Dornholzhausen wurde von der kirchlichen Behörde durch Verfügung vom 14. August 1926 II 6790 bestätigt, worauf der Superintendent den Bestätigten am 5. September 1926 in sein Amt einführte. Auf besonderen Wunsch der Gemeinden Hochelheim und Dornholzhausen hatte das Evangelische Konsistorium bereits vom 1. August des Jahres ab den Kandidaten Schneider als Hilfsprediger nach Hochelheim gesandt. Heute weilt Pfarrer Schneider zum ersten Mal als Mitglied der Synode unter uns. Wir heißen ihn herzlich willkommen und wünschen ihm zu seiner Amtsführung Gottes reichen Segen.“
An gleicher Stelle wird noch seine Vermählung mit Margarete Dieterich, einer Pfarrerstochter aus Weilheim bei Tübingen, bekannt gegeben und dem vor kurzem geborenen Kindlein fröhliches Gedeihen gewünscht. Von nun an arbeitete Schneider in verschiedenen Arbeitsfeldern des Kirchenkreises Wetzlar mit. Schneider sprach beim Synodalfest für Innere Mission am 24. Juli 1927 in Hörnsheim über die Arbeit der Berliner Stadtmission, die er durch seine Mitarbeit kannte. Er sprach beim Kreisfest des Kreisverbandes der Jungfrauenvereine im Kirchenkreis Wetzlar am 8. Juli 1928 vor 600 bis 700 jungen Frauen. Schneider gehörte ab 1929 dem neu gewählten Innerkirchlichen Ausschuss an. Bei einer der vierteljährlichen Pfarrkonferenzen 1929/1930 berichtete er über seine Teilnahme an einem Kurs im Burckhardthaus. Schneider nahm vom 29. September bis 1. Oktober 1929 an der jährlichen Jugendtagung der Kirchenkreise Wetzlar, Braunfels und Altenkirchen teil. Er wurde 1930 in den in diesem Jahr neu gegründeten Synodal-Jugendausschuss gewählt. Am 10. August sprach er beim Synodalfest des Vereins für Innere Mission in Salzböden über Jeremia 29,29. 1931 nahm er an einem staatlichen Lehrgang für Erwerbslosenbetreuung in Stromberg teil. Er berichtete davon im synodalen Jugendausschuss. Im Kirchenkreis Wetzlar war er für die Betreuung der Fürsorgezöglinge verantwortlich. Er arbeitete in Wetzlar bei Bastelkursen für Arbeitslose mit.
Im März 1932 gab es den ersten aktenkundigen Konflikt von Paul Schneider mit der NSDAP. 1932 beschwerte sich die Gauleitung Frankfurt am Main zum ersten Mal beim Superintendenten Wieber des Kirchenkreises Wetzlar über ihn. Im 1933 trat er den DC vermutlich kurzzeitig bei, wandte sich dann aber nach einem Vortrag von Probst in Wetzlar wieder von ihnen ab. Bei der Kreissynode am 11./12. Juni 1933 legte Schneider, bzw. das Presbyterium Dornholzhausen, den Antrag vor, eine Kundgebung betreffend das sonntägliche Sportleben von den Kanzeln verlesen zu lassen. Außerdem solle die Kundgebung an die Jugend-, Sport- und Turnvereine gehen, einschließlich der HJ, SA und SS. Diese Vereine wurden gebeten, ihre Veranstaltungen so zu legen, dass weiterhin Sonntagsheiligung geschehe. Im Oktober 1933 protestierte Schneider im Schaukasten und von der Kanzel gegen Äußerungen des SA-Stabschef Ernst Röhm. Schneider griff Röhms Aussagen über das „Muckertum“ an und seine Aussagen gegen die herkömmlichen Moralvorstellungen. Schneider protestierte außerdem gegen ein Werbeblatt der HJ, das die konfessionelle Jugendarbeit angriff. Der Hochelheimer NSDAP-Stützpunktleiter forderte vom Konsistorium die sofortige Beurlaubung Schneiders. Schneider wurde beurlaubt und sollte versetzt werden. Die Entscheidung des DC-Konsistoriums konnte nicht wirksam werden, da sich die Presbyterien in Hochelheim und Dornholzhausen hinter Schneider stellten. Der Konflikt ließ sich durch Verhandlungen mit Landrat Grillo, der auch Partei-Kreisleiter war, und Bischof Oberheid regeln. Der Landrat galt als „ein besonders scharfer Nationalsozialist“. Schneider nahm seinen Protest öffentlich zurück und bedauerte ihn, er bekundete seine Loyalität gegenüber Staat und Partei. Paul Schneider war wegen seiner Moralvorstellung und der Behinderung seiner Gemeindejugendarbeit mit den Nationalsozialismus aneinandergeraten. Im Dezember 1933 schloss sich Paul Schneider dem Pfarrernotbund an, damit bezog er eindeutig Stellung. Andere versuchte er zu diesem Schritt ebenfalls zu bewegen. Seine Gemeinde sollte zu einer Bekenntnisgemeinde werden. Schneider war einer der ersten Pfarrer im Kirchenkreis Wetzlar, die sich dem Pfarrernotbund anschlossen hatten. In den kommenden Wochen verlor er wegen eines Streits um das weihnachtliche Jugendabendmahl das Vertrauen seines Presbyteriums. Dies war eine innergemeindliche Auseinandersetzung, bei der es nicht um den Nationalsozialismus und das Verhältnis Staat und Kirche ging. Der Konflikt um den Röhm-Aufruf war noch nicht vergessen. Das Konsistorium drängte Schneider, sich auf eine andere Stelle zu bewerben. Seine Predigt vom 28. Januar 1934 führte zur Eskalation. Er predigte nach den Zuspitzungen des Kirchenkampfes in den vergangenen Wochen über die aktuellen Auseinandersetzungen in der evangelischen Kirche. Er verlas eine Erklärung des Pfarrernotbundes gegen den Maulkorberlass Müllers vom 4. Januar 1934 und er griff die Deutschen Christen mit eigenen Worten scharf an. Er verurteilte die theologische Basis der Deutschen Christen. Blut, Rasse und Geschichte seien keine Offenbarungsquellen. Die Kirche dürfe sich nicht den politischen Maximen der NS-Regierung unterordnen. Der Staat solle auf dem Gebiet der Politik bleiben und nicht auf das Gebiet des Glaubens hinübergreifen. Der Staat solle demütig genug sein, auch auf das Wort Gottes zu hören, das durch den Dienst der Kirche zu ihm komme. Schneider wehrte sich gegen eine Gleichschaltung der Kirche. Die Kirche habe einen Öffentlichkeitsauftrag. Schneider griff in seiner Predigt Alfred Rosenberg an, der am 25. Januar 1934 zum Schulungsleiter der NSDAP ernannt worden war. Er charakterisierte die in Rosenbergs „Mythos des 20. Jahrhunderts“ vertretenen Positionen als Heidentum. Außerdem griff er Joseph Goebbels und die von ihm in einem Aufsatz vertretene freizügige Sexualmoral an. Besonders seine Kritik an Rosenberg und Goebbels führten unmittelbar nach der Predigt zu einem neuen Konflikt mit den Nationalsozialisten. Die NSDAP-Ortsgruppe drängte erneut auf die Versetzung Schneiders. Der Landrat forderte vom Konsistorium die sofortige Suspendierung von Schneider, andernfalls würde er in Schutzhaft genommen. Er wurde beurlaubt. Vor dem Konsistorium relativierte Schneider seine Aussagen und willigte in eine Versetzung ein. Am 15. Februar wurde er aufgefordert, brieflich der Übernahme der Stelle Dickenschied-Womrath zuzustimmen. Das Konsistorium gab dem Druck des NS-Regimes nach. Aufgrund des Abendmahlstreites mit seinem Presbyterium stärkte dieses ihm in dem Konflikt nicht den Rücken. Am 25. April 1934 verließ er Hochelheim, am 8. Mai 1934 wurde er in seiner neuen Gemeinde eingeführt. Eine Kasualvertretung am 11. Juni 1934 führte zu seiner ersten Verhaftung. Bei der Bestattung eines Hitler-Jungen sagte er: „Ob es einen Sturm Horst Wessels in der Ewigkeit gibt, weiss ich nicht, aber Gott der Herr segne deinen Ausgang aus der Zeit und deinen Eingang in die Ewigkeit“. 1935 wurde er ein zweites Mal inhaftiert, weil er die auf der zweiten Bekenntnissynode der altpreußischen Union in Berlin-Dahlem verfasste Warnung vor der drohenden Gefahr der neuen Religion verlas. Es folgte ein Strafverfahren. Die Gestapo lud Paul Schneider immer wieder vor. 1937 wurde er erneut verhaftet und ein Sondergerichtsverfahren eröffnet. Er wurde aus der Rheinprovinz ausgewiesen. Nach weiteren Zusammenstößen wurde Schneider am 3. Oktober 1937 erneut verhaftet und am 27. November 1937 in das Konzentrationslager Buchenwald eingeliefert. Er rief und predigte aus seinem Zellenfenster zu den Häftlingen oder der SS hinaus und half durch Seelsorge, dadurch erhielt er die Bezeichnung „Der Prediger von Buchenwald“. Er verweigerte den Hakenkreuz-Fahnengruß. Er wurde gefoltert. Schneider starb am 18. Juli 1939 vermutlich infolge einer ihm verabreichten Überdosis Strophanthin. An seiner Beisetzung in Dickenschied am 21. Juli 1939 nahmen mehrere hundert Gemeindeglieder teil, darunter rund 200 Pfarrer. Die Beisetzung wurde zu einer Demonstration gegen das nationalsozialistische Regime.
Frank Rudolph