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Predigt am 5. November 2006 in der Evangelischen Kirche in Oberweidbach und in der Evangelischen Marienkirche Niederweidbach.


Der Prophet Jeremia schreibt einen Brief an die Israeliten in Babylon. Ich lese Jeremia 29,1.4-7:

1 Der Prophet Jeremia schickte einen Brief von Jerusalem nach Babylonien an die Ältesten der Gemeinde, die noch übriggeblieben waren, und an die Priester, die Propheten und alle anderen, die Nebukadnezzar dorthin verschleppt hatte…
4 Der Gott Israels, der Herrscher der Welt, sagt zu allen, die er aus Jerusalem nach Babylonien wegführen ließ:
5 »Baut euch Häuser und richtet euch darin ein!
Legt euch Gärten an, denn ihr werdet noch lange genug dort bleiben, um zu essen, was darin wächst!
6 Heiratet und zeugt Kinder!
Verheiratet eure Söhne und Töchter, damit auch sie Kinder bekommen! Eure Zahl soll zunehmen und nicht abnehmen.
7 Seid um das Wohl der Stadt besorgt (suchet der Stadt Bestes, bemüht euch um das Wohl der Stadt), in die ich euch verbannt habe, und betet für sie! Denn wenn es ihr gutgeht, dann geht es auch euch gut.
11 denn mein Plan mit euch steht fest (sagt Gott): Ich will euer Glück und nicht euer Unglück. Ich habe im Sinn, euch eine Zukunft zu schenken, wie ihr sie erhofft. Das sage ich, der HERR.

Jeremia schreibt diesen Brief an die Israeliten in Babylon im Auftrag von Gott. Der Brief ist eine Arbeitsanweisung von Gott an Gefangene. Die Israeliten wurden weggeführt, jetzt werden sie gefangen gehalten in Babylon. Der israelitische König Jojakim war drei Jahre babylonischer Vasall gewesen, dann fiel er aber von Babylon ab und das Land wurde deshalb 597 von den Babyloniern gestraft. Jerusalem wurde belagert. Die Stadt öffnete die Stadttore um einem Sturmangriff zuvor zu kommen. Jerusalem wurde geplündert und das Volk deportiert, die Oberschicht, die jungen Männer und Frauen, die Schönen und Reichen, die Priester.

Jetzt sind die Israeliten in Babylon in der Gefangenschaft. Sie sind in Babylon, der Stadt der Feinde, der Unterdrückung und der Fremdbestimmung. Viele Pflichten haben sie als Gefangene, aber wenig Rechte. Gefangenschaft beschädigt die Persönlichkeit.

Jetzt sitzen sie nach der militärischen Niederlage und der politischen Katastrophe als Fremde und Heimatlose in einem fernen Land. Das Volk Israel ist einer anderen Herrschaftsmacht ausgeliefert. Die Deportierten sitzen gleichsam auf gepackten Koffern und hoffen, dass die Zeit in der ungeliebten Fremde bald vorbei ist. Mancher mag auf Flucht sinnen, mancher mag an Sabotage denken, an Arbeitsverweigerung und an Kooperationsverweigerung.

Sie sitzen da mit ihren Träumen und ihrer Sehnsucht. Sie träumen von ihrem Zuhause, der schönen Stadt Jerusalem. Sie träumen von Freunden und Verwandten. Sie träumen von besseren Tagen, von einer wunderbaren Befreiung und dass die Zukunft sie für alles Unrecht, das sie erleiden müssen, einmal entschädigen wird.
Sie träumen auch von ihrer Religion, ihrem Glauben an Gott, den Schöpfer. Sie träumen von ihrer Religion hier in dem Land, in dem man an andere Götter glaubt. Sie träumen vom Tempel in Jerusalem, wo Gott wohnt.

Wenn man so da sitzt, da hört man gerne auf falsche Propheten. Die falschen Propheten sagen: Die Rückkehr steht unmittelbar bevor. Bald seid ihr wieder zu Hause. Ihr braucht euch nicht um die Probleme hier zu kümmern. Falsche Propheten waren das – die Verbannung dauerte noch ganze 70 Jahre, das wissen wir heute.

Und dann kommt Post, Post von Jeremia. Den kennen sie, der war schon in Jerusalem unangenehm aufgefallen. Er hatte schon in Jerusalem dazu aufgefordert, sich den Babyloniern und ihrem König Nebukadnezar zu unterwerfen. Und er hatte gesagt, dass es Ungehorsam gegenüber Gott ist, wenn sie sich nicht unterwerfen.

Irgendwie klingt der Brief von Jeremia wie: Arbeitet am System der Unterdrücker mit. Aber das meint Jeremia nicht. Er sagt: Lebt nicht nur in der Erinnerung an bessere Zeiten, an eine bessere Vergangenheit. Gebt euch nicht nur euren Illusionen von einer besseren Zukunft hin, die unmittelbar bevorstehen soll. Lebt vielmehr in der Gegenwart. Lebt heute, statt vorgestern oder übermorgen! Wartet nicht auf bessere Zeiten, lebt und handelt heute in der Gegenwart. Stellt euch ihren Schwierigkeiten – aber auch ihren Möglichkeiten. Lasst euch nicht von einer falschen Hoffnung verführen. Eure Hoffnung braucht einen langen Atem. Geht eure Situation beherzt an. Lasst euch nicht durch den Verlust der Heimat und des Tempels lähmen.

Er gibt seinen Landsleuten merkwürdig einfache Ratschläge. Er sagt: Tut das Nächstliegende: „Baut Häuser und wohnt darin; pflanzt Gärten und esst ihre Früchte“. Das heißt doch: Richtet euch darauf ein, dass eure Zeit hier vielleicht länger dauert als ihr jetzt glaubt. Füllt diese Zeit darum sinnvoll aus und engagiert euch. „Suchet der Stadt Bestes…denn wenn es ihr wohl geht, so geht es auch euch wohl.“ Tut dort etwas, wo ihr seid und lebt.

So weit die gefangenen Israeliten im Land Babylon und der Prophet Jeremia. Wir leben in einer anderen Situation, aber die Grundaussage gilt in allen Städten und Dörfern. Was ist gut für eine Stadt? Was hilft einer Stadt? Was rettet eine Stadt? Was ist das Beste für eine Stadt? Was sollen wir als Christinnen und Christen erstreben und suchen in unseren Dörfern und in unserer Gesellschaft?

Erstens: Wirke mit, zieht dich nicht zurück.
Es gibt christliche Gruppen, die suchen das Ghetto. Die ziehen sich zurück aus der Welt und aus der Gesellschaft. Die leben in ihrem Gemeindehaus, aber nicht im Gemeinwesen. Das ist, wenn wir den Brief von Jeremia an die Deportierten in Babylon ernst nehmen, nicht unsere Aufgabe. Wir leben in der Welt, wir sind ein Teil der Gesellschaft, wir sollen mitwirken und uns engagieren. Wir sollen für uns, für unseren Glauben leben und arbeiten, nicht nur im Haus, in der Familie und in der Gemeinde leben, sondern auch in der Gesellschaft und im Beruf. Übernimm Verantwortung. Misch dich ein. Tu etwas. Pack an. Bleib nicht hocken, beweg dich für andere. Verantwortung hat etwas mit Bleiben zu tun – nicht Fliehen. Verantwortung heißt: ich bleibe hier, habe die Verantwortung und trage Verantwortung.

Zweitens: Seid politisch.
Das Wort „politisch“ kommt von dem griechischen Wort „polis“, das heißt „Stadt“. Das griechische Wort „polis“ liegt unserem Wort „Politik“ zugrunde. „Suchet der Stadt Bestes“ heißt also „Werdet Kommunalpolitiker“. „Suchet das Beste für die Stadt“, diesen Satz hat man als das kürzeste kommunalpolitische Grundsatzprogramm bezeichnet. Es gibt ein Buch mit dem Titel: „Suchet der Stadt Bestes“. Darin stehen die Lieblingsbibelverse von 56 Politikern. Von der Bundeskanzlerin und vielen anderen. Politiker sehen es als ihre Aufgabe, der Stadt Bestes zu suchen.

Was braucht eine Stadt?
Eine Stadt braucht eine gute Infrastruktur: Strassen, Schulen, ein gutes Nahverkehrssystem, eine intakte Umwelt, die Versorgung mit Wohnungen, Wirtschaft, Handel und Handwerk, öffentliche und private Einrichtungen.
Eine Stadt braucht Kunst und Kultur: Musik, Theater, aber auch Wissenschaft, die Technik, das Nachdenken über Gegenwart und Zukunft.
Eine Stadt braucht soziale Balance und soziale Gerechtigkeit: die Ausgewogenheit zwischen den Menschen, den bürgerschaftliche Frieden, Freiraum für Menschen anderer Herkunft, anderer Nationalität, anderer Religion und mit anderem Lebensstil. Eine Stadt braucht das Miteinander leben, nicht gegeneinander leben, nicht nebeneinander leben. Leben mit gegenseitigem Verständnis und Toleranz. Leben und voneinander lernen, neues Lernen, den eigenen Blick weiten.

Suchet der Stadt Bestes. Ihr Christen uns Christinnen, seid politisch für eure Stadt.
Das ist natürlich nicht leicht. Es gibt leere Kassen und viele Spannungen und Konflikte zwischen Menschen.

Drittens: Verkündige das Evangelium.
Wir als Christen und Christinnen sind als Bürgerinnen und Bürgern unseren Mitbürgern das Beste schuldig – suchet der Stadt Bestes. Das Beste, was wir zu sagen haben, ist das Evangelium. „Suchet der Stadt Bestes“ ist der Auftrag zum Engagement in der Gesellschaft und zur Mission. Erzähle vom Evangelium, der guten Nachricht von Jesus Christus. Alle sollen und dürfen es wissen: Jesus Christus hat gelebt als Gott und Mensch. Er hat Menschen geheilt, getröstet, Wunder gewirkt. Er hat geredet vom Reich, von der neuen Welt Gottes. Durch ihn wurde alles neu. Er starb unschuldig und wurde auferweckt. Er lebt heute. Er schenkt Leben heute. Er gibt Leben Sinn. Wir haben die Hoffnung auf ewiges Leben bei ihm. Das ist es, was alle wissen sollen. Das ist das Beste für die Stadt.

Zum Schluss:
Suchet das Beste für die Stadt. Die Stadt ist der Lebensraum der Menschen. Die Menschen sind verantwortlich dafür, dass ihr Lebensrum erhalten bleibt, sodass sich immer wieder Leben entfalten und von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden kann. Früher hörte die Stadt an den Stadtmauern auf, dahinter begann die Natur, für die niemand verantwortlich zu sein brauchte, weil sie nicht gefährdet war.
Heute müssen wir die Grenzen dessen, was unser Verantwortungsraum ist, viel weiter ziehen. Unser Blick geht über die Stadt hinaus auf das Land, auf den Nationalstaat, auf das vereinte Europa. Mindestens unsere gesamte Erdkugel muss heute Gegenstand unserer Verantwortung sein. Und – wenn man an die Raumfahrt denkt – auch der Weltraum.

Weltverneinung ist nicht unsere Aufgabe. Unsere Aufgabe ist die Weltbejahung und die Mission. Der Brief des Jeremia endet mit einer Heilszusage für die Israeliten, die auch für uns gilt: Ich will dir eine Hoffnung geben, Glück, Frieden und eine Zukunft.

Frank Rudolph